Bildungsdefizite endlich beheben

Rosemarie HeinBundestagAllgemeine Bildung

REDE IM BUNDESTAG „Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der fünfte nationale Bildungsbericht gibt erneut Anlass, den Zustand des Bildungssystems in Deutschland kritisch zu beleuchten. Das will ich tun. Vor allen Dingen müssen wir die notwendigen Schlussfolgerungen daraus ziehen. Die Stellungnahme der Bundesregierung zu diesem Bericht finde ich ausgesprochen enttäuschend. Sie macht vor allem das, was sie in Sachen Bildung seit Jahren tut: Sie lobt sich, und sie setzt auf ein ‚Weiter so‘. Doch mit einem ‚Weiter so‘ werden wir die gravierenden Defizite, die es im deutschen Bildungssystem auf allen Ebenen nach wie vor gibt, nicht beheben können.

Ich will das an ein paar Beispielen deutlich machen. Das Bildungssystem in Deutschland ist insgesamt nach wie vor von einer großen sozialen Ungleichheit geprägt. Kinder von Eltern, die keinen akademischen Abschluss haben, besuchen um ein Vielfaches seltener ein Gymnasium als Kinder aus Akademikerelternhäuser. Das Ziel der Hochschulreife erreichen sie häufiger als andere - auch wenn das besser geworden ist - erst über den längeren Weg der berufsbildenden Schulen. Ein deutlich geringerer Anteil von ihnen nimmt ein Hochschulstudium auf. Sechsmal häufiger landen sie an Hauptschulen. Ich finde, das ist ein Ausweis, dass es, was das Bildungssystem in Deutschland betrifft, so nicht weitergehen kann.

Probleme gibt es nach wie vor auch im Bereich der beruflichen Bildung. Ende des vergangenen Jahres - inzwischen liegen auch neuere Zahlen vor - wurde festgestellt, dass wieder weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen wurden als im Jahr zuvor, in dem schon ein Tiefststand zu verzeichnen war. Das ist nicht mit Passungsproblemen zu erklären, wie es die Bundesregierung und Sie, Frau Ministerin, immer wieder tun. Es fehlt eindeutig ein Ausbildungsangebot. Es gibt genügend Bewerberinnen und Bewerber, die einen Beruf erlernen wollen. Sie bekommen aber keinen Ausbildungsplatz; das ist das Problem. 81 000 Bewerberinnen und Bewerber sind im vergangenen Jahr ohne Ausbildungsvertrag geblieben. Das sind zwar 2 400 weniger als im Jahr zuvor; aber wenn das Abbautempo so weitergeht, werden wir nicht 10 oder 15, sondern 34 Jahre brauchen, um dieses Defizit auszugleichen.

Vor allem fehlt Geld, viel Geld. Sie haben zum wiederholten Male auf die 1,2 Milliarden Euro verwiesen, die der Bund den Ländern zur Verfügung stellt. Ich frage mich, was von diesem Betrag noch alles finanziert werden soll.

Sie haben angekündigt, dass Sie in den nächsten vier Jahren insgesamt 6 Milliarden Euro mehr in die Bildung geben werden. Es gibt aber Studien, die belegen, dass jährlich zwischen 20 und 40 Milliarden Euro zusätzlich nötig wären, um die Defizite im Bildungsbereich insgesamt auszugleichen. Sie können nicht immer nur auf die Länder verweisen, Sie müssen die Länder auch entsprechen ausstatten; anders funktioniert das nicht.

Ich habe 15 Jahre Bildungspolitik in den Ländern gemacht. Ich weiß, was dort in den Bildungshaushalten steht. Ich weiß, was das für ein Kampf ist, und ich weiß, wo dann das Ende der Fahnenstange erreicht ist.

Wir wollen nicht verhehlen, dass es auch positive Entwicklungen gibt. Aber wie das so ist: Auch bei den positiven Entwicklungen gibt es Defizite. Obwohl die Zahl der Betreuungsplätze für unter Dreijährige stark gestiegen ist, wurden vor allen Dingen in den westlichen Bundesländern die Zielzahlen gar nicht erreicht.

Sie haben uns zitiert, weil wir die WiFF-Initiative loben. Wir loben sie, weil diese Weiterbildungsinitiative geeignet ist, bei ausgebildeten Fachkräften sonderpädagogische Sachkompetenz zu entwickeln. Was diese Initiative jedoch nicht leisten kann, ist die Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern. Man darf nicht verkennen, dass die WiFF-Initiative ein Weiterbildungsprogramm ist. Ihre Arbeit ist aller Ehren wert, reicht aber nicht aus für eine vernünftige Versorgung mit ausgebildetem Erziehungspersonal.

Zu den positiven Trends gehört auch der Wunsch nach höheren Bildungsabschlüssen. Der Realschulabschluss - das steht auch im Bildungsbericht - wird zum neuen Regelabschluss; das ist sehr schön. Bei Lernförderung im Rahmen des Bildungs- und Teilhabepaketes der Bundesregierung ist das Ziel, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen, jedoch nicht vorgesehen. Dies sei kein Grund, Lernförderung zu beantragen, hat uns die Bundesregierung schriftlich erklärt. Wenn der Realschulabschluss aber ein solch anerkannter und erstrebenswerter Abschluss wird - wir wissen, dass man dadurch deutlich besser einen Ausbildungsplatz bekommt -, dann muss auch er Ziel von Lernförderung sein. Ich kann Ihnen versichern: Die Schulen könnten mit dem Geld, was man in die Lernförderung steckt, etwas Besseres anfangen. Aber die Schulen bekommen das Geld nicht und das gehört zu den Grundstrickfehlern in unserem Bildungssystem.

Gut ist auch, dass immer mehr junge Leute ein Studium aufnehmen; hier wurden die Zielzahlen des Bildungsgipfels in der Tat überboten. Doch die Lehre an den öffentlichen Hochschulen wird vor allem durch befristet eingestelltes Lehrpersonal abgesichert. Es ist keine zukunftsfähige Entwicklung, wenn man durch prekär Beschäftigte die Lehre absichern will. Da muss etwas passieren! Das können Sie jetzt im Übrigen auch leisten.

Besondere Probleme weist der Bildungsbericht bei der schulischen Bildung aus. 2012 haben immer noch 5,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss verlassen. An den Förderschulen besteht in den Ländern sehr oft nicht einmal die Möglichkeit, einen Hauptschulabschluss zu erwerben; auch das gehört zu den Defiziten.

Problematisch ist, dass die Entwicklung neuer Schulformen - die es gibt in den Ländern, und zwar zuhauf - von den Autoren des Bildungsberichtes so eingeschätzt wird, dass dies die Übersichtlichkeit im Bildungssystem nicht erhöht, im Gegenteil, es wird unübersichtlicher. Familien werden immer mehr verunsichert und sind dadurch auch in ihrer Mobilität eingeschränkt.

Besonders nachdenklich gemacht hat mich die Feststellung, dass die Zahl der allgemeinbildenden Schulen in den letzten Jahren dramatisch zurückgegangen ist und dass es nicht mehr möglich ist, überall ein wohnortnahes Angebot zu machen. Die Schulwege werden länger. Darüber verliert die Bundesregierung leider kein Wort. Das sei nicht ihr Bier, dafür sei der Bund nicht zuständig, nicht für die Schulsanierung, nicht für die Schulsozialarbeit, nicht für die Ausstattung mit Lehrkräften usf. - alles Ländersache. Ich bin Lehrerin. Ich weiß, was es heißt, jeden Schultag fünf bis sechs Stunden das Interesse von Schülerinnen und Schülern wachzuhalten. Es steht im Bildungsbericht, wir sind heute bei diesem Thema. Man kann sich dort nicht einfach rausmogeln! Seit meiner Schulzeit hat sich die Lebenswelt von Kindern gravierend verändert. Ich habe große Hochachtung vor dem, was die Lehrenden zurzeit leisten.

Die Bundespolitik erfindet in ihrer Unzuständigkeit Programme, mit denen sie an der Schule vorbei versucht, die Defizite, die es im schulischen Bereich gibt, zu beseitigen. Das sind durchaus vernünftige Programme, wie ‚Kultur macht stark‘, die als Ergänzung von uns sehr wohl durchaus anerkannt werden. Aber diese Programme können kein Ersatz sein ‑ auch nicht die Berufseinstiegsbegleitung. Das alles kann die Situation an Schulen nicht verbessern.

Wir fordern erneut die Einführung einer Gemeinschaftsaufgabe ‚Bildung‘, damit wir hier nicht immer darüber debattieren müssen, wer zuständig ist; denn die Bildung unterliegt laut Grundgesetz der staatlichen Aufsicht, und Staat sind wir bitte schön auch.

Zu dieser Gemeinschaftsaufgabe gehören eine bessere Ausfinanzierung des Bildungssystems und ein Rechtsanspruch auf Ausbildung. Die hohe Betreuungsqualität im frühkindlichen Bereich und die hohen Betreuungszahlen haben auch etwas damit zu tun, dass es hier einen Rechtsanspruch gibt. Das darf man nicht vergessen.

Daneben ist auch eine inhaltliche und strukturelle Debatte notwendig. Hier könnte ein Bildungsrat helfen, den wir schon 2012 vorgeschlagen haben. Ich freue mich, dass die SPD dem jetzt zustimmt. Vielleicht finden wir ja noch mehr Gemeinsamkeiten. Ich freue mich auf die Debatte im Ausschuss.

Vielen Dank.“