Inklusion in der Bildung - der 2. und der 3. Streich

Rosemarie HeinBundestaginklusives Lernen

07.07.2016 – REDE IM BUNDESTAG | Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 2009 haben wir uns verpflichtet, Inklusion in der gesamten Gesellschaft umzusetzen. Die Voraussetzungen dafür muss die Politik schaffen, also wir. Da haben wir noch ein großes Stück Arbeit vor uns. Wie weit wir davon noch in der Bildung entfernt sind, sollen zwei Beispiele belegen.

Erstes Beispiel. Eine Familie im Harz möchte ihr zweijähriges behindertes Kind in einer Regelkita in Wohnortnähe betreuen lassen. Diese Kita ist auch aufnahmebereit. Doch das zuständige Jugendamt verweist die Familie auf eine besondere Kita am anderen Ende des Harzes. Dort sind bereits andere Kinder mit Handicaps in Betreuung. - Das ist nicht Inklusion, sondern Exklusion, Ausgrenzung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es ist zudem eine zusätzliche Belastung für das Kind und seine Familie.

Zweites Beispiel. Ein junger Mann aus dem Süden Sachsen-Anhalts hat eine diagnostizierte Lese- und Rechtschreibstörung; die behält man sein ganzes Leben. In der Schule wurde seine besondere Situation zunächst nicht beachtet. Es kam zu einem Schulwechsel. Dort wurde dann seine Rechtschreibleistung nicht mehr bewertet. Das ist bis zur 10. Klasse möglich, und das ist auch so gehandhabt worden. Der junge Mann hat sich bis zur gymnasialen Oberstufe durchgekämpft; aber dort ging das dann nicht mehr. Das ist nicht nur in Sachsen-Anhalt so, sondern auch noch in 14 anderen Bundesländern.

(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)

Die Folge: Das Abitur fiel entsprechend schlechter aus, was zu unnötigen Wartesemestern bei der gewünschten Studienwahl führt.

Nun frage ich Sie: Was berechtigt uns, ein Kind wegen seines Handicaps gegen den Willen der Eltern in eine deutlich weiter weg gelegene Kita zu verweisen? Was berechtigt uns, einem jungen Mann mit einer Lese- und Rechtschreibstörung den Zugang zum Studium zu erschweren? Ich sage es Ihnen: Nichts!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Weil wir dieses Recht nicht haben, haben wir Ihnen heute die beiden Anträge vorgelegt. Das sind ja keine Einzelfälle; das findet immer wieder in vielfältiger Art und Weise statt.

Es ist doch paradox: Wer es wegen einer irgendwie gearteten Benachteiligung schwerer hat, Bildung zu erlangen und erfolgreich zu lernen, dem baut unser Bildungssystem noch zusätzliche Hürden auf,

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

entweder dadurch, dass Hilfeleistungen erst kompliziert beantragt werden müssen oder fadenscheinig verweigert werden, oder dadurch, dass die individuelle Situation gar nicht berücksichtigt wird, weil sie in keinem der Sozialgesetzbücher vorkommt.

Wer Inklusion will, der muss sie im gesamten Bildungsbereich durchsetzen, der muss einen uneingeschränkten und gleichberechtigten Zugang zu Bildung für alle - ohne Ausnahme - gewährleisten,

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

und ich sage „gewährleisten“, nicht „gnädigerweise“ oder, wie es so schön im Verwaltungsdeutsch heißt, „nach pflichtgemäßem Ermessen gewähren“. Es geht nicht um Ermessen, es geht um einen Rechtsanspruch.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für das Gewährleisten sind wir alle zuständig, nicht nur die Länder, nicht nur die Kommunen, sondern auch der Bund. Darum umfasst unser Forderungskatalog in beiden Anträgen Forderungen an alle drei Ebenen. Wir brauchen überall inklusive Kitas und inklusive Schulen; den Rahmen dafür müssen wir schaffen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir benötigen Inklusion auch im politischen Handeln.

(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Harald Petzold (Havelland) (DIE LINKE))

Darum fordern wir zum wiederholten Male, die gemeinsame Verantwortung für Bildung von Bund, Ländern und Kommunen endlich im Grundgesetz festzulegen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben Ihnen vor wenigen Wochen mit dem Berufsbildungsbericht schon einmal einen solchen Antrag vorgelegt. Sie werden gemerkt haben, dass sie teilweise wortgleich sind; das ist Absicht.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ach so!)

Es ging damals um die berufliche Bildung. Es gibt aber auch Unterschiede, die sich durch die speziellen Bildungsbereiche ergeben. Heute nun folgen der zweite und der dritte Streich, und ich verspreche Ihnen: Nach der Sommerpause kommt der vierte Streich, nämlich zur Hochschulbildung.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Thomas Feist (CDU/CSU): Und zwar auch wortgleich! - Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Das war eine Drohung!)