Recht auf Ausbildung umsetzen

Rosemarie HeinBundestagBerufliche Bildung

Rede im Bundestag | Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin, ich habe ein Problem damit, wenn Sie sich hier vorne hinstellen und sagen: „Wir sind ja im Prinzip ganz gut“, dann aber Zahlen benennen, die durchaus bedenklich sind. Statt konkret darauf einzugehen, sagen Sie immer wieder: „Wir sind auf dem Weg, wir lösen das.“ - Wir lösen das seit Jahren nicht, eigentlich seit Jahrzehnten nicht. Schon im Januar hat das Bundesinstitut für Berufsbildung die Ausbildungsplatzzahlen und die Arbeitsmarktzahlen für diesen Bereich vorgelegt. Das war damals schon ein Ausrufezeichen. Heute reden wir über den Bericht, der auf genau diesen Zahlen beruht.

Es ist eben so - Sie haben es vorhin gesagt -: Die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze und die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge sind auf historische Tiefststände gesunken. Seit gestern ist die Zahl von 4,3 Prozent weniger abgeschlossenen Ausbildungsverträgen im Jahr 2013 im Gespräch; es sind nicht bloß 3,7 Prozent weniger. Die Zahl ist also deutlich schlechter geworden. Zugleich sind mehr Ausbildungsplätze als im Vorjahr unbesetzt geblieben; 33 000 Stellen sollen es sein. Und die Betriebe klagen zunehmend darüber, dass sie keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber finden. Die Bundesregierung spricht dann von „Passungsproblemen“. Ich finde, das ist eine Beschönigung der Situation.

Sie hatten sicherlich gehofft, dass sich das Problem der Versorgungslücke bei Ausbildungsplätzen mit den zurückgehenden Schülerzahlen löst. Sie müssen aber nun feststellen, dass für 100 Ausbildungsplatznachfrager nicht einmal 92 Ausbildungsplatzangebote zur Verfügung standen. Auch hier gibt es seit Jahren keine Verbesserung. Für ein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen müssten - das fordern die Gewerkschaften seit vielen Jahren - 112 Plätze für 100 Suchende zur Verfügung stehen. Insofern geht es eben nicht um „Passungsprobleme“, sondern um eine massive, deftige Ausbildungsplatzlücke, nicht von nur 21 000 unversorgten Bewerbern, sondern von 83 000 Suchenden, denen kein Angebot gemacht werden konnte.

Außerdem - jetzt kommt die Zahl, auf die Sie schon so lange warten - gibt es immer noch 257 000 junge Menschen, die in Maßnahmen des sogenannten Übergangsbereiches geschickt wurden, in Bildungsmaßnahmen also, die zu keinem anerkannten Berufsabschluss führen. Sie sollen zwar die Chance erhöhen, später einmal eine Ausbildung beginnen zu können, aber es gibt keine Garantie. Ein Lehrer einer berufsbildenden Schule bestätigte mir vor wenigen Tagen, dass manche Schülerin und mancher Schüler bis zu acht oder gar neun Jahre in unterschiedlichen Bildungsmaßnahmen oder Bildungsgängen seiner Schule bliebe. Was aber ist das für ein Bildungssystem, das junge Menschen jahrelang auf die Wartebank schickt, bevor sie ins Berufsleben eintreten können? Ich finde, wir können uns das nicht leisten.

Es ist noch schlimmer: Die Schülerinnen und Schüler in den verschiedenen Bildungsmaßnahmen im Übergangsbereich zwischen Schule und Berufsausbildung haben zu 51 Prozent einen Hauptschulabschluss. Der Hauptschulabschluss gilt in allen Schulgesetzen als der Abschluss, der zur Aufnahme einer Ausbildung befähigt, also die Ausbildungsreife bestätigt. Was aber ist von dem von der Koalition oft als erstrebenswert angesehenen Ziel zu halten, dass jeder wenigstens einen Hauptschulabschluss macht, wenn man hinterher damit gar keinen Ausbildungsplatz bekommen kann? - Nur noch 7 Prozent der Unternehmen stellen Azubis mit Hauptschulabschluss ein. Wie soll man denn da motivieren, auf diesen Hauptschulabschluss hinzuarbeiten? - Ich finde da keine Argumente mehr. Ich kann den Schülerinnen und Schülern doch nicht sagen: Macht doch mal wenigstens den Hauptschulabschluss! Dann habt ihr zwar auch keine Perspektive, aber immerhin einen Abschluss.

Die Bundesregierung schickt dann Berufseinstiegsbegleiter los, die den benachteiligten Jugendlichen helfen sollen, den Weg in den Beruf zu finden. Aber was sind die vielen Hilfsprogramme wert, wenn das Erreichen oder das Nachholen des Hauptschulabschlusses eben nichts bewirkt?

Das ist noch nicht alles; denn mehr als 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Übergangsbereich haben sogar einen Realschulabschluss. Drei Viertel der in den Übergangsbereich Abgeschobenen verfügt also über eine ausreichende Qualifizierung, um eine Ausbildung aufnehmen zu können. Wieso kann immer noch von Fachkräftemangel geredet werden, wenn wir so vielen jungen Menschen erst so spät oder gar nicht eine Chance geben? Nein, es muss für alle Jugendlichen einen verbrieften Rechtsanspruch auf eine Ausbildung geben, und darum fordern wir das auch in unserem Antrag.

Ihr Ausbildungspakt ist gescheitert. Eine Neuauflage, gleich unter welchem Namen Sie die Karte im Koalitionsvertrag versteckt haben, lohnt sich nicht. Denken Sie endlich über eine Umlagefinanzierung nach, die alle Unternehmen angemessen ins Boot holt. Es ist höchste Zeit, umzudenken.

Ich möchte noch eine Unmöglichkeit ansprechen, auch wenn sie im Berufsbildungsbericht nur am Rande vorkommt. Fast jede oder jeder von uns dürfte irgendwann schon einmal in die Verlegenheit gekommen sein, sich den verspannten Rücken wieder richten lassen zu müssen. Dann geht man zu einem Physiotherapeuten, der kriegt das wieder hin. Ich habe neulich meine Physiotherapeutin nach den Konditionen ihrer Ausbildung gefragt. Sie kostete für sie vor einigen Jahren noch etwa 300 Euro im Monat, und das drei Jahre lang. Eine Ausbildungsvergütung gab es nicht. Von wem auch? Es ist ja kein dualer Ausbildungsberuf. So geht es auch Logopädinnen, Ergotherapeuten, Heilerziehungspflegerinnen, Altenpflegerinnen usw.

Für die Gesundheits- und Sozialberufe sind die Länder zuständig, auch wenn es entsprechende Bundesgesetze zu Ausbildung und Berufsanerkennung gibt. Zum großen Teil erfolgen diese Ausbildungen in berufsbildenden Ersatzschulen, und die zahlen nicht, sondern die kosten, und zwar zwischen 300 Euro und 500 Euro im Monat. Daran ändern auch die gesetzlichen Regelungen zur Finanzierung der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe und der Altenpflegeausbildung nichts. Da nicht dual Ausgebildete keine Ausbildungsvergütung erhalten, fordern wir in unserem Antrag, dass das Schüler-BAföG reformiert werden muss.

Wohl gemerkt: Es handelt sich hier nicht um eine Maßnahme des Übergangsbereiches und nicht um eine Ausbildung über den Bedarf hinaus; denn in der Regel finden die so Ausgebildeten hinterher alle einen Job. Zählt man die Erziehungsberufe hinzu, zeigt sich auch, dass es nicht um eine kleine Gruppe geht. Es sind etwa 200 000 junge Menschen, die jährlich diese so wichtigen Berufe ergreifen. Da muss sich endlich etwas ändern.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind nur einige von ganz vielen Baustellen, die uns der Berufsbildungsbericht aufzeigt. Ich kann sie in der kurzen Zeit nicht alle auch nur annähernd nennen. Es scheint so, als müssten wir in Bezug auf unser gesamtes Bildungssystem umdenken.

Herr Rossmann hat gestern in einem Gespräch im Bildungsausschuss geäußert, dass wir möglicherweise darüber nachdenken müssen, ein Bildungsgesetz zu machen. Ja, ich finde ein Bildungsrahmengesetz über alle Bildungsbereiche hinweg, das Rechtsansprüche, soziale Rahmenbedingungen und wesentliche Bildungsziele und Bildungswege für alle regelt, könnte ein Weg sein, aus dem Wirrwarr von Regelungen und dem Förderungsdschungel herauszukommen und Bildung für alle zu verbessern. Dann müssen wir allerdings auch wieder über die Aufhebung des Kooperationsverbotes und des Verbots der Bildungszusammenarbeit reden, und zwar nicht nur im Hochschulbereich, sondern in allen Bildungsbereichen. Vielleicht wächst in der Koalition ja so langsam die Einsicht.

Danke schön.