Das Ding mit den Schulsystemen

Rosemarie Hein: Hinweise zur bildungspolitischen Debatte zur Verwendung in der Argumentation

Alle reden von den unterschiedlichen Schulsystemen in Deutschland – jedes Land habe sein eigenes.

Aber eigentlich ist das falsch. Wir haben nämlich ein einheitliches. Es ist überall ein gegliedertes. Es besteht im Grunde aus Grundschulen von der ersten bis zur 4. Klasse (in BRB und Berlin bis zur 6.)und danach aus Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien.

In den 70er Jahren ist Bewegung in die Sache gekommen. Da wurden zahlreiche Gesamtschulen gegründet, die in sich alle drei Bildungsgänge vereinen (integrativ) oder auch nebeneinander abbilden (kooperativ). Bis auf wenige Ausnahmen sind sie auch in der integrativen Form genötigt, um der Anerkennung ihrer Abschlüsse willen, vom 7. oder 8. Schuljahrgang an in bestimmten Fächern Lerngruppen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus zu bilden. Damit wird das gegliederte System in die Gesamtschule am Ende wieder hinein geholt und der integrative Gedanke konterkariert.

Seit einigen Jahren ist eine verstärkte Bewegung in den Ländern in Gang gekommen, aus der Not heraus (die Zahl der HauptschülerInnen geht dramatisch zurück) Haupt- und Realschulen zusammen zu legen. Diese (neuen) Schulformen heißen Sekundarschule, Mittelschule, Oberschule, Regelschule, verbundene Haupt- und Realschule, erweiterte Realschule, Stadtteilschule, Regionalschule, Realschule Plus und neuerdings Mittelstufenschule (in Hessen). In ihnen sollen sowohl der Hauptschulabschluss als auch der Realschulabschluss erworben werden können.  Sie ersetzen Haupt- und Realschulen.

Zwei Länder machen eine Ausnahme: das sind Bayern und Baden-Württemberg. Sie schaffen neben Haupt- und Realschulen neu zusätzlich Mittelschulen und Werkrealschulen, die aber weiter nichts sind als aufgemotzte Hauptschulen, die auch den Abschluss der zehnten Klasse ermöglichen. Sie bleiben aber im Grunde Hauptschulen.

Völlig unangetastet bleibt das Gymnasium. Das ist auch der Grund, warum die eigentliche Lösung einer Schule für alle, die wir Gemeinschaftsschule nennen, oder auch die Primarschule in Hamburg so heftig bekämpft werden. Solche Gemeinschaftsschulen gibt es bislang nur in Berlin und in Schleswig-Holstein (dort allerdings mit schlechter Ausstattung und sie sollen nach dem Regierungswechsel durch ein jüngst beschlossenes Schulgesetz mit den Regionalschulen zusammengelegt werden, was ihr Aus bedeutet). Einige Versuche gab es in Sachsen und neuerdings in NRW.

Der Trend geht also hin zu einem zweigliedrigen System neben dem es allerdings weiter Förderschulen gibt, was der UNO-Konvention über die Rechte behinderter Menschen widerspricht.

 Das eigentliche Problem des gegliederten Systems, welchen Namen man der Schulform neben dem Gymnasium auch gibt, ist in der inhaltlichen Bestimmung der Bildungsgänge zu suchen. Dort wird eben nach der Zuweisung zu einem der drei Bildungsgänge nur noch mit dem Ziel desselben unterrichtet. Das heißt, wer in der Hauptschule oder in den neuen Schulformen im Hauptschulbildungsgang landet, wird eben nur noch mit dem Ziel des Hauptschulabschlusses unterrichtet. Damit werden Bildungsinhalte vorenthalten, die man am Gymnasium und an der Realschule selbstverständlich erfährt. Die vielgepriesene Durchlässigkeit des Bildungssystems nach „oben“ gibt es nicht. (Zahlenbeleg weiter unten). Wer nun glaubt, dass mit dem Zusammenlegen der beiden Schulformen die Hauptschule verschwindet, irrt gewaltig, sie lebt in der neuen Schulform fort.

Das große Problem, das Familien erfahren, wenn sie der Arbeit hinterher ziehen müssen oder wollen, sind die unterschiedlichen Bildungsinhalte und Stundentafeln. So sagte eine (Gymnasial)Schülerin aus Bayern, die nach Sachsen-Anhalt wechseln musste, sie hätte einen Vorteil und einen Nachteil gehabt. So habe sie eine bessere Fremdsprachenausbildung genossen, aber ihr fehlten zwei Jahre Chemie. In Bayern setzt Chemieunterricht in der neunten Klasse ein, in Sachsen-Anhalt schon in der siebenten.

Solche Beispiele gibt es mehrere, obwohl es inzwischen für alle Kernfächer Bildungsstandards der KMK gibt. Sie müssen nun aber auch als Maßstab gelten, wenn SchülerInnen umziehen müssen und darum die Schule wechseln. Das ist aber noch lange nicht Realität. Und es muss gelten, dass nicht der Schüler oder die Schülerin verantwortlich ist, wenn ihr oder ihm aufgrund anderer Lehrpläne Stoff fehlt, sondern die aufnehmende Schule ist zuständig. Sie muss zusätzliche Förderung anbieten. Dafür aber muss die Schule auch die personellen und zeitlichen Möglichkeiten haben. Darum ist Sparen bei der Bildung oder auch der Verweis auf private Nachhilfe der falsche Weg. Neueste Perversion: es bilden sich private Agenturen, die Umziehenden bei der richtigen Schulwahl helfen. Das wäre aber Aufgabe der öffentlichen Schulverwaltung oder der Kultusministerien!

Das größere Problem aber ist das der sozialen Ausgrenzung (bitte nicht Selektion sagen, wenn es um Menschen geht!). Gerade der Bundesbildungsbericht stellt fest, dass Kinder aus Familien, in denen der höchste Schulabschluss ein Hauptschulabschluss ist, oftmals auch höchstens einen Hauptschulabschluss erreichen. So funktioniert soziale Vererbung. Die heute existierende Schule in Deutschland verfügt über keine ausreichenden Gegenstrategien. So muss konstatiert werden, dass in Sachsen-Anhalt die Zahl der Schülerinnen und Schuler, die die Schule ohne Schulabschluss oder höchstens mit einem Hauptschulabschluss die Schule verlassen erstmals die Zahl derer übersteigt, die ein Abitur erwerben. Das ist noch viel deutlicher in den vermeintlichen deutschen „PISA-Siegerländern“ Bayern und Baden-Württemberg so, wie man aus der Bildungsstatistik des Jahres 2009 entnehmen kann (Zahlen unten). Das ist ein Skandal.

Wir haben eine Gegenstrategie: Individuelle Förderung jedes Kindes und jedes Jugendlichen in einer Gemeinschaftsschule, die mindestens für alle den Realschulabschluss anstrebt, also wenigstens bis zur Klasse zehn geht und mehr jungen Leute als heute das Abitur ermöglicht. Dass dies geht, beweisen seit Langem andere Staaten, zum Beispiel die  nordischen, aber eben nicht nur die.

gesamtes Diskussionspapier als PDF