Über bürgerschaftliches Engagement und Programmpolitik

Artikel von Dr. Rosemarie Hein veröffentlicht im Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland 7/2016:

In der Basisgruppe meiner Partei erzählte mir eine ältere Genossin vor kurzem stolz, dass „ihre“ Klasse für sie zu ihrem 88. Geburtstag Bilder gemalt habe. Bilder als Dankeschön für die wöchentlichen Lesestunden. Einmal pro Woche geht sie zu ihnen, um mit ihnen zu lesen. Davon haben beide etwas: Lesefreude die Grundschulkinder, leuchtende Augen und das Gefühl, gebraucht zu werden, die Seniorin.

Das Konzept „Lesepaten“ wird von verschiedenen Vereinen und Verbänden befördert, oft von den Freiwilligenagenturen unterstützt. Auch der jährliche Vorlesetag ist eine solche Initiative, an der sich auch Menschen beteiligen können, die sonst nicht ständig ehrenamtlich unterwegs sind.
Ehrenamtliche Tätigkeit, bürgerschaftliches Engagement, Freiwilligenarbeit – das alles bezeichnet Formen gesellschaftlichen Mittuns, ohne die unsere Gesellschaft nicht nur ärmer wäre, sondern auch weniger fest zusammen hielte. Demokratische Mitgestaltung und bürgerschaftliches Engagement sind gewissermaßen – im guten Sinne – Kitt in unserer Gesellschaft.

Grund genug bürgerschaftliches Engagement zu fördern.

Als hier in Magdeburg 2002 und 2012 das Hochwasser viele Existenzen bedrohte, bedurfte es keiner Aufforderung, dass viele Menschen aller Generationen kamen und oft bis zur Erschöpfung halfen. Bürgerschaftliches Engagement braucht keinen besonderen Auftrag, keine gesetzliche Vorschrift. Es entsteht dort, wo Hilfe notwendig ist. Darum sind die Formen und Organisationsstrukturen, die Arten der Vernetzung und des Austausches auch sehr unter-schiedlich und abhängig von den konkreten regionalen Gegebenheiten und Erfordernissen. Steuerung von oben ist darum schwierig. Aber bürgerschaftliches Engagement braucht einen unterstützenden rechtlichen Rahmen. Dieser fehlt bislang weitgehend.

Allerdings sind dabei bedenkliche Dinge zu beobachten:

Die Selbstverständlichkeit, das Notwendige zu tun, verleitet die öffentliche Hand angesichts knapper Kassen oder falsch verstandener Sparpolitik, öffentliche Aufgaben in das Ehrenamt zu verlagern. Das scheint, Geld in den öffentlichen Kassen zu sparen. Aber das Ehrenamt ist mit der dauerhaften Übernahme öffentlicher Aufgaben nicht nur überfordert, der Rückzug des Staates führt sogar zu einem gegenteiligen Effekt der Gewöhnung an fehlende Daseinsvorsorge. Darum ist es notwendig, dem schleichenden Rückzug des Staates entgegenzuwirken. Öffentliche Aufgaben müssen öffentlich finanziert und durch Fachkräfte in Festanstellung ausgeführt werden. Das gilt für mich auch für die Aufgaben in der Flüchtlingshilfe, für die mal eben so 10.000 Stellen im Bundesfreiwilligendienst bereitgestellt wurden.

Bürgerschaftliches Engagement darf nicht zum vierten „Beschäftigungssektor“ werden. Angesichts der Ausweitung des Niedriglohnsektors und einer nach wie vor hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen sowie verdeckter Arbeitslosigkeit ist die Versuchung groß, Arbeiten im Ehrenamt gegen Aufwandsentschädigung erledigen zu lassen. Die Möglichkeiten der Ehrenamtspauschale und der Übungsleiterpauschalen erscheinen in Kombination mit Minijobs nicht selten als Möglichkeit der Verbesserung des individuellen Einkommens. Gekoppelt mit dem Rückzug der öffentlichen Hand aus bisherigen Aufgaben entsteht ein neuer Niedriglohnbereich. Insbesondere der Bundesfreiwilligendienst ist für Menschen, die lange arbeitslos waren, eine Möglichkeit wieder gesellschaftliche Anerkennung zu erhalten. Aber es ist auch ein Weg für öffentliche Aufgaben Personal, das ganz legal weit unter Mindestlohn arbeitet, einzusetzen. Darum ist insbesondere im Osten der Anteil der Bundesfreiwilligendienstleistenden im Alter über 27 Jahren besonders hoch. Er ersetzt hier praktisch die frühere ABM. Das darf keinesfalls hingenommen werden.

Überhaupt darf die Tatsache, dass Ehrenamt und Freiwilligenarbeit sich quasi selbst organisiert, kein Grund für politische Untätigkeit sein, denn auch Ehrenamt braucht Rahmenbedingungen, unter denen es sich entwickeln kann. Dazu gehört eine Anerkennungskultur, die öffentlich wahrgenommen wird und individuell motiviert. Zwar haben sich inzwischen mehrere Preisvergaben etabliert, aber die können nur herausgehobene einzelne Leistungen honorieren. Das alltägliche Engagement Vieler wird damit nur stellvertretend gewürdigt. Gesellschaftliche Wertschätzung alltäglicher Arbeit findet darüber hinaus noch nicht hinreichend statt.

Außerdem ist es wichtig die Finanzierung von Organisationsstrukturen zur Unterstützung des ehrenamtlichen Engagements zu sichern. Vor Ort haben sich Akteure vernetzt, sie suchen den Austausch und Synergien. Sie lernen voneinander und entdecken neue Tätigkeitsfelder im eigenen gesellschaftlichen Umfeld. So sind im Zusammenhang mit der Aufnahme von Geflüchteten zahlreiche unterschiedlichste Initiativen entstanden. Nicht immer wurden sie von den Zuständigen offen unterstützt, manchmal anfangs sogar beargwöhnt. Aber ohne dieses Ehrenamtsengagement wären die zuständigen Stellen noch mehr überfordert gewe-sen, als sie es ohnehin waren und sind.

Ehrenamtliches Engagement zu ermöglichen – das übersehen viele – erfordert auch öffentliche Mittel, die verlässlich und nicht nur sporadisch fließen müssen. Dazu die Sicherung eines Bestandes fester Ansprechpartner, also festangestellten Personals, das Ehrenamt unterstützen kann. Dazu gehört Weiterbildung für Ehrenamt und die Trägerstrukturen. Und es gehört dazu die rechtliche, versicherungstechnische Absicherung ehrenamtlich Tätiger, aber auch die Anerkennung solcher Arbeit durch die Arbeitgeber.

Hier vor allem gibt es jede Menge nachzuholen.

Die Politik hat sich in der Vergangenheit vor allem auf punktuelle Hilfen, neue Programme und Initiativen konzentriert. Vieles davon ist sinnvoll, wenn es dauerhaft finanziert würde. Doch in der Politik haben Programme eben nur zeitweiligen Charakter. Meist wird davon ausgegangen, dass in solcher Weise Initiiertes dann alleine weiter läuft. Doch das ist ein Trugschluss. Wenn Projekte auch gut angelaufen sind, sich Strukturen entwickelt haben, der Austausch stattfindet, dann wird mit dem Wegbrechen der Finanzierungsquellen über kurz oder lang auch die Struktur zerfallen.
Die Bundespolitik beteiligt sich gern beim Erfinden solcher Programme. Bundesprogramme in der Freiwilligenarbeit können Anschübe befördern, aber das Angeschobene und vielleicht dadurch Erreichte eben nicht dauerhaft sichern. Ein Beispiel dafür ist das Programm „Kultur macht stark“. Auch wenn das nicht vordergründig auf die Entwicklung von Ehrenamt gerichtet ist, sondern kulturelle Teilhabe für Benachteiligte ermöglichen soll, sind hier ähnliche Mechanismen wirksam. Obwohl ich das Programm zunächst sehr skeptisch betrachtet habe, muss ich eingestehen, dass hier sehr viele gute Ideen, Netzwerke im besten Sinne für kulturelle Angebote in der Breite entstanden sind. Es wurde sogar so etwas wie Flächendeckung wenigstens annähernd erreicht, was wenigen Programmen beschieden ist. Doch nun steht die Frage der Fortsetzung und Verstetigung. Ohne den bisher gesicherten Geldfluss wird das meiste in kurzer Zeit wieder im Sande verlaufen.

Das deutet auf ein weiteres Problem hin: Mit viel Engagement und Ideenreichtum entworfene Projekte bringen zwar gute Beispiele für bürgerschaftliches Engagement, aber bleiben begrenzt, erreichen eben keine Flächenpräsenz. Punktuell gute Beispiele erwecken für die Politik und die Politikerinnen und Politiker oft den Anschein des Allgemeingültigen. Man ist stolz auf das Erreichte und sieht dahinter die Beschränktheit der Wirkung der Idee nicht mehr. In der Abrechnung hört sich das alles gut an, in der Wirkung bleibt es beschränkt.

So geht es zum Beispiel mit dem auch oft als Beispiel für bürgerschaftliches Engagement gepriesenen Modells des Engagement-Lernen. Das betreuende Netzwerk berichtet derzeit von über 150 Schulen, die sich bundesweit beteiligen, die Lernen durch Engagement auf ihre Fahnen geschrieben haben. Das ist für ein Netzwerk eine beachtliche Zahl. Wir haben aber laut Statistischen Bundesamt über 44.000 Schulen bundesweit. Auch hier ist man von der Flächendeckung weit entfernt.

Außerdem: So interessant der pädagogische Ansatz ist, er ist weder neu, noch wird er den Unterricht in der Schule grundlegend revolutionieren. Gute Schulen öffnen sich schon heute dem regionalen Umfeld, wenn keine bürokratischen Steine in den Weg gelegt werden. Lernortkooperationen oder Lernortverlagerungen sind ebenfalls nicht neu. Lernen an praktischen Erfahrungen wird auch in Bildungsangeboten wie „Produktives Lernen“ genutzt, das zum Beispiel in Sachsen-Anhalt besonders für Jugendliche mit drohendem Schulversagen angeboten wird. Ähnliche Bildungsangebote gibt es auch in anderen Bundesländern. Gute Schulen haben längst eigene Schulprogramme, die das Schulleben prägen, gute Schulen nutzen die Potenziale der Region (und die Vereine, Verbände und Institutionen als Partnerinnen und Partner) längst für die Lebensweltorientierung im Unterricht. So ist der Kontakt zum Seniorenheim, die gemeinsame Weihnachtsfeier, der im Rahmen des Sachkundeunterrichts oder des Biologieunterrichts gepflegte Dorfteich oder Bachlauf hinter dem Schulgelände eine Bereicherung, die nicht nur auf die vorgesehenen Projektwochen beschränkt werden muss. Und all das ist auch geeignet, die Bedeutung des eigenen Tuns für die Gemeinschaft den Lernenden nahe zu bringen. Möglicherweise erwächst daraus auch das Bedürfnis, sich auch außerhalb und nach der Schule ehrenamtlich zu engagieren. Möglicherweise aber auch nicht, denn was gewissermaßen Pflichtunterricht ist, ist eben nicht freiwillig! Im Fachgespräch im Unterausschuss bestätigte uns Dr. Detlev Buchholz vom Hochschulnetzwerk „Bildung durch Verantwortung“, dass verpflichtendes Engagement als Bestandteil des Studiums eben nicht zu mehr gesellschaftlichem Engagement danach führt.

Eigentlich ist das auch logisch. Denn Engagement beruht ja gerade auf der Freiwilligkeit und nicht auf der Pflicht. Dr. Buchholz betonte auch, dass es wichtig sei, dass die Studierenden ihre Projekte selbst definieren können. Das muss auch für Schulen gelten. Dennoch bleibt bei dem verengten Blick auf Service-Learning in Schulen viel individuelles Engagement, das es auch bei Lernenden nicht wenig gibt, außen vor: Was ist mit der Arbeit im Chor, der Musikschule und den Konzerten, die dort gegeben werden und das kulturelle Leben bereichern? Was ist mit der individuellen Tätigkeit bei der Jugendfeuerwehr vor Ort? Wie organisiert man Engagement-Lernen, wenn man etwas über wissenschaftliches Arbeiten zum Beispiel im nahegelegenen Planck-Institut erfahren will?

Öffnung der Schule ins regionale Umfeld ist wesentlich breiter als es durch Engagement-Lernen abgebildet werden kann. Es ist eine Möglichkeit, nicht mehr, und es ist kein freiwilliges bürgerschaftliches Engagement, denn das sucht man sich auch freiwillig!

Besser fände ich im Übrigen, wenn Engagement oder besonderes Wissen, das sich Lernende bei ihrer Tätigkeit außerhalb der Pflichtunterrichts aneignen, als besondere Lernleistung oder als besonderes Engagement durch die Schule anerkannt wird und auf dem Zeugnis vermerkt wird – das ist mancherorts schon möglich – und gut wäre auch, dass dieses erworbene Wissen, wo es möglich ist, für die Bereicherung des Unterrichts genutzt wird. Auch das wäre Motivation und eine Form informellen, wirklichkeitsbezogenen Lernens mit Nutzen nicht nur für die Klassengemeinschaft, sondern auch für die Stärkung der Persönlichkeit.

Wenn aber Lernen durch Engagement, kurz LdE, als die neue Lernmethode gepriesen wird, dann regen sich bei mir Zweifel, ob damit nicht übers gute Ziel hinausgeschossen wird. Ich finde es also besser Engagement der Lernenden in den Unterricht zur Bereicherung hinein zu holen, als es verpflichtend für alle vorzugeben. Das konterkariert den Grundsatz der Freiwil-ligkeit bürgerschaftlichen Engagements und wird am Ende im schlimmsten Falle sogar kont-raproduktiv für späteres bürgerschaftliches Engagement. – Verzeihen Sie mir den Exkurs, als Bildungspolitikerin, die ich auch bin, kann ich nicht anders –

Doch zurück zum Thema:

Zu den Problemen mit der Programmpolitik gehört auch, dass angesichts der Vielfalt der Strukturen und Erfordernisse vor Ort auch nicht gesichert ist, dass die schön ausgedachten Programme des Bundes, auch wenn sie auf an die Politik herangetragene Wünsche reagieren, vor Ort wirklich nützen. Mitunter passen die Programme nicht auf schon vorhandenen Strukturen vor Ort. Weil aber gerade dieses gefördert wird und anderes nicht und Geld bekanntlich überall knapp ist, sucht man sich zu beteiligen. Die gute Idee vor Ort geht dann vielleicht verloren oder wird so geändert, dass sie auf die Förderbedingungen passt.

Die Programmpolitik von Bund und Ländern ist der goldene Zügel, mit dem man gesellschaftlich gestalten will. Ich will das nicht grundsätzlich und für alle Bereiche in Frage stellen, aber man muss um die Begrenztheit des Mittels wissen. Es kann als Initialzündung dienen, kann orientieren, aber Programmpolitik ist kein Ersatz für Kontinuität. Das gilt auch für gesetzliche Regelungen. Sie müssen Rahmen setzen, die Engagement ermöglichen und absichern, nicht Vorgaben machen, die zum Korsett werden und bürokratische Hürden aufbauen. Den Dialog dazu sollten wir mit den Akteuren und Netzwerken führen. Auch den Austausch darüber, wo Netzwerke angebunden sein sollten, fände ich interessant.

Wichtig ist es, dauerhaft Strukturen, auch Netzwerke zu finanzieren. Wenn schon Programme, dann müssen sie offen gehalten werden, flexibel sein, damit sie vor Ort anschlussfähig werden. Wenn durch solche Programme Strukturen vor Ort entstanden sind, muss die Verstetigung mit bedacht werden. Im Selbstlauf wird das nichts. Sinnvoll ist es auch vor Ort Gewachsenes aufzugreifen. Aber ob es sich um Verallgemeinerungswürdiges handelt muss dann ebenfalls von Akteuren vor Ort jeweils entschieden werden. Nicht nur den Unterschied zwischen städtischen und ländlichen Räumen gilt es zu bedenken. Darum sollten vor allem Länder und Kommunen in die Lage versetzt werden, selbst Projekte und Netzwerke zu fördern und zu erhalten! Die Förderung von Engagement gehört immer noch zu den freiwilligen Aufgaben der Kommunen. Sie werden darum oft nur dann interessant, wenn Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge damit erledigt werden können. Aber das ist nicht Aufgabe des bürgerschaftlichen Engagements.

Autorin:
Dr. Rosemarie Hein ist Sprecherin für bürgerschaftliches Engagement der Fraktion DIE LINKE und Obfrau im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engagement des Deutschen Bundestages.
Kontakt: rosemarie.hein@bundestag.de

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