»Eigentlich versagt das Bildungssystem als Ganzes«

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IM WORTLAUT- linksfraktion.de, Rosemarie Hein, Sprecherin für Allgemeine Bildung, und Azize Tank, Sprecherin für Soziale Menschenrechte der Fraktion DIE LINKE.

Die Bildungspolitik der Bundesregierung versagt auf ganzer Linie
Der aktuelle Berufsbildungsbericht der Bundesregierung fasst ein Dilemma in Zahlen, das in den vergangenen Jahren bereits abzusehen war: Immer weniger junge Menschen finden noch einen Ausbildungsplatz, während gleichzeitig immer mehr Ausbildungsstellen unbesetzt bleiben. Woran liegt das?


Dr. Rosemarie Hein: Die Bundesregierung hat seit Jahren auf das falsche Pferd gesetzt. Sie haben den Vereinbarungen mit den Unternehmen vertraut und die Augen vor Fehlentwicklungen verschlossen. Mit den „Pakten auf Ausbildung“, den „Bildungsketten“ und anderen Reparaturprogrammen des Bundes sollte versucht werden, vor allem Absolventinnen und Absolventen ohne Schulabschluss oder mit einem schlechteren Schulabschluss den Weg in die Ausbildung zu ebnen. Im Übrigen hat man darauf gehofft, dass sich das Problem mit den zurückgehenden Schülerzahlen allein löst.

Azize Tank: Diese Einschätzungen teile ich. Zugleich dürfen wir nicht vergessen: Bildung steht nicht im luftleeren Raum, sondern ist Ausdruck der tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Teilhabe in diesem Land. Wir dürfen Bildung nicht isoliert von den wirtschaftlichen Verhältnissen betrachten. Während für den finanziell besser gestellten Teil unserer Gesellschaft die Schule ein Mittel der Emanzipation und Chancen darstellt, ist es für andere ein Instrument zur Verfestigung bestehender Exklusion. Das Recht auf Bildung ist aber ein soziales Menschenrecht für alle!

Bildung ist längst kein Versicherungsschutz gegen Arbeitslosigkeit mehr, was die Arbeitslosenzahlen gut ausgebildeter Arbeiterinnen und Arbeiter, aber auch die unerträglichen Bedingungen prekär beschäftigter Akademikerinnen und Akademiker belegen. Messen wir also die Qualität unserer Gesellschaft nicht an der Stärke des dicksten Pfeilers einer Brücke, sondern an der Tragfähigkeit des schwächsten. Das gilt insbesondere in der Bildungspolitik. Wir brauchen keine weitere Bildungsreform, wir brauchen eine Bildungsrevolution!

Worin liegt denn aus Ihrer Sicht die Krux des dualen Ausbildungssystems?

Dr. Rosemarie Hein: Darin, dass die Ausbildungsbereitschaft der Unternehmen sinkt. Nur noch knapp über 21 Prozent der Betriebe bilden überhaupt aus. Hinzu kommt die unsägliche Debatte um die angeblich fehlende Ausbildungsreife der Absolventinnen und Absolventen. Darum landen Jahr für Jahr eine Viertelmillion junger Menschen im sogenannten Übergangssystem, das sie für eine Ausbildung vorbereitet werden soll. Dabei kann das gar nicht sein. Denn von denen, die im Übergangssystem landen, haben 51 Prozent einen Hauptschulabschluss, der nach den Schulgesetzen der Länder die Berufsbildungsreife bescheinigt. Fast 25 Prozent haben sogar einen Realschulabschluss und trotzdem keinen Ausbildungsvertrag. Das ist ein unhaltbarer Zustand.

Azize Tank: Die Bundesregierung tut dabei so, als sei Arbeitslosigkeit nur das Ergebnis einer fehlerhaften Selbst-Optimierung der Bildungsprofile junger Menschen. Damit wird die Verantwortung für die katastrophale Wirtschafts- und Sozialpolitik, welche die Teilhabe an den sozialen Grund- und Menschenrechten außer Acht lässt, auf Kosten und zu Lasten der Zukunftschancen junger Menschen abgewälzt.

Das klingt nach Vorwurf und Abstellgleis: "Unreife" in der Persönlichkeitsentwicklung, schlechte schulische Leistungen. Wer versagt hier wirklich?

Dr. Rosemarie Hein: Eigentlich versagt das Bildungssystem als Ganzes. Das beginnt in den Schulen. Lehrerinnen und Lehrer werden mit den Problemen im Lernprozess zunehmend allein gelassen. Die konkrete Lebenssituation junger Menschen und ihrer Familien kann viel zu wenig beachtet werden. So verlassen zu viele Schülerinnen und Schüler die Schule ohne oder mit nur schlechtem Abschluss. Dann versagt das so gepriesene duale System. Offensichtlich ist die Wirtschaft, eine der tragenden Säulen dieses Systems, nicht bereit, ausreichend Ausbildungsplätze anzubieten und hat sich in den vergangenen Jahren zudem angewöhnt, Absolventinnen und Absolventen mit einem höheren Schulabschluss den Vorzug zu geben. Damit aber werden bislang anerkannte Abschlüsse entwertet.

Azize Tank: Es muss hervorgehoben werden, dass es dabei auch Unterschiede entlang konstruierter ethnischer Trennlinien gibt. Dies belegt auch eine Studie des Sachverständigenrates Deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Menschen mit Migrationshintergrund sind nachweislich beim Zugang zur Ausbildung benachteiligt. Schüler mit türkischen Namen haben bei vollkommen gleichen Noten deutlich schlechtere Chancen bei Bewerbungen. In Deutschland ist dabei der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischem Erfolg besonders stark ausgeprägt. Die konstruierte ethnische Grenze bildet somit auch eine Trennlinie bei der Gewährleistung des Rechts auf Bildung, jenem Menschenrecht welches als Schlüssel für den Zugang zu weiteren Menschenrechten gilt. Dabei liegt es nicht an den jungen Menschen selbst, deren Bildungsergebnisse nachweislich sich stetig verbessern, sondern an den Merkmalen des Schulsystems und des Unterrichts.

Eine Bankrotterklärung der Integrationspolitik?

Azize Tank: Die Ergebnisse empirischer Forschung offenbaren dabei zwei Aspekte. Zunächst eine strukturelle Benachteiligung von Schülern aus Einwandererfamilien. Zugleich aber scheint die Benachteiligung wegen ihrer sozialen Herkunft oft weitaus entscheidender zu sein. Vor dem Hintergrund aber, dass soziale Ausgrenzung und Teilhabe in dieser Gesellschaft entlang konstruierter ethnischen Linien verläuft, ist es schwierig zu sagen, was zuerst da war: die ethnische Diskriminierung oder Armut. In Deutschland lässt sich aber oftmals eine vielfache Diskriminierung durch soziale und ethnische Ausgrenzung feststellen.

Und die Bundesregierung? Die kennt die Probleme ja auch. Gibt es Bewegung hin zu echten Verbesserungen? Wo können Sie einhaken?

Dr. Rosemarie Hein: Deren Politik versagt auf der ganzen Linie. Gerade wird das nächste Hilfsprogramm aus der Tasche gezogen und vollmundig verkauft, während die wichtigste Entscheidung, die Abschaffung des Kooperationsverbotes zwischen Bund und Ländern in der Bildung, auf die lange Bank geschoben wird. So kann Bildung nicht wirklich verbessert werden. Das hat Folgen, auch für die berufliche Bildung. Wir fordern nicht nur eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern in allen Bildungsbereichen, sondern ein Recht auf Ausbildung und eine gerechte Ausbildungsvergütung. Die Qualität der Ausbildung muss in einigen Bereichen, wie etwa der Gastronomie, dringend verbessert werden.

Azize Tank: Um die sogenannte Ausbildungsgarantie wirklich umzusetzen, brauchen wir angesichts der großen Nachfrage auch geeignete Angebote und eine rechtliche Verankerung. Mit Selbstverpflichtungen der Unternehmen kommen wir hier nicht weiter. Der Zugang zur Bildung muss auch im deutschen dualen Bildungssystem von Diskriminierungen befreit werden und wieder an den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Menschen ausgerichtet werden – und nicht umgekehrt den zeitweiligen Bedürfnissen der Wirtschaft, die sich während einer Ausbildungsperiode dabei auch noch mehrfach ändern. Die Verwerfungen im Bildungsbereich sind weitgehend hausgemacht. Debatten um Bildung werden oft dazu missbraucht, um eine nationale Katastrophe dort zu inszenieren, wo keine ist und die wahre Katastrophe an einer anderen Stelle unbemerkt Wirklichkeit wird. Während in der realen Welt, der Welt der Kinderarmut und sozialer Ausgrenzung, politischer Handlungsbedarf besteht, werden stattdessen Maßnahmen zur Trennung und Ausgrenzung von Schülerinnen und Schülern im Bildungswesen für rechtmäßig erklärt. So lässt sich von den realen Konsequenzen der gescheiterten Sozialpolitik, von Agenda 2010 über die Gesundheits- und Rentenreformen bis zur latenten Hetze gegen Migrantinnen und Migranten, ablenken. So können sozial benachteiligte Schülerinnen und Schüler mit und ohne Migrationshintergrund als Risikogruppe und Gefahr für diese Gesellschaft diffamiert werden.

linksfraktion.de, 23. April 2014