Nationaler Bildungsbericht – kein Grund zur Freude

11.11.2016 – REDE IM BUNDESTAG | Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Herr Jung hat eben ein Loblied auf den Bildungsbericht und die vermeintlichen oder tatsächlichen Bildungsfortschritte gesungen. Ich habe den Bericht anders gelesen.

Es gibt auch in diesem Jahr sehr viel Grund zu kritischem Nachfragen; der Bericht enthält auch sehr viel Kritisches. Ich kann nur auf einige wenige Befunde eingehen.
In ihrem Bericht betont die Bundesregierung, dass sich Investitionen in die Bildung auszahlen. Das stimmt ohne Zweifel. Sie wollten ja eigentlich 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung ausgeben. In dem Bildungsbericht wird nun festgestellt, dass Sie dieses Ziel auch 2014 nicht erreicht haben. Da fehlen allein über 26 Milliarden Euro, die Bund und Länder mehr hätten ausgeben müssen.

Das sind Bund und Länder den Menschen in diesem Lande schuldig geblieben. Selbst das würde nicht ausreichen, um eine auskömmliche Bildungsfinanzierung sicherzustellen. Allein 34 Milliarden Euro fehlen für die Investitionen in Schulgebäude. Das ist keine Zahl, die die Linken irgendwie zusammengerechnet haben, sondern eine Feststellung der KfW-Bankengruppe aus einer Studie vom September dieses Jahres.

Nun ist der Schulbau zwar eine kommunale Aufgabe, aber die Kommunen können das offensichtlich nicht stemmen. Sie tragen ohnehin einen deutlich höheren Anteil als der Bund an der gesamten Bildungsfinanzierung, nämlich 29 Milliarden Euro, während der Bund 19 Milliarden Euro trägt. Auch das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.

Die Folge ist, dass viele Schulen in unserem Land unsaniert bleiben und - noch schlimmer - dass viele öffentliche Schulen in der Fläche verschwinden. In der Not entstehen dort Privatschulen, damit es vor Ort überhaupt noch ein Schulangebot gibt.

Bildung aber ist eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehört eine ordentliche Bildungsinfrastruktur. Wenn Sie jetzt beschließen, sozusagen rückwirkend noch einmal 3,5 Milliarden Euro in den Schulbau zu geben, dann ist das sicherlich eine schöne Sache, und die Kommunen werden sich freuen. Aber es hilft nicht, diesen Investitionsstau aufzulösen. Dazu brauchen wir eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz.

Nicht nur bei Schulen gibt es diesen Bedarf, den wir hier decken müssen.

Das größte Problem für das deutsche Bildungssystem ist nach wie vor die große Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft. Das ist kein neuer Befund. Aber man gewinnt den Eindruck, die Bundesregierung gewöhnt sich langsam daran. Aus der Stellungnahme geht hervor: Es wird analysiert, geforscht, verstetigt, aber viel Neues gibt es nicht.

Kinder aus einem Akademikerhaushalt haben immer noch um ein Vielfaches bessere Chancen, zum Abitur zu gelangen. Sie beginnen deutlich häufiger ein Hochschulstudium und erreichen öfter den Masterabschluss. Absolventen mit einem Master haben bessere Beschäftigungschancen in ihrem Fachgebiet als Bachelorabsolventen; all das kann man im Bildungsbericht nachlesen. Aber es gibt zu wenige Masterstudiengänge, um überhaupt jedem Bachelorabsolventen den Master zu ermöglichen. Auch hier ist die soziale Disparität, die soziale Ausgrenzung offensichtlich.

Die soziale Ausgrenzung durchzieht alle Bildungsbereiche. Besonders deutlich wird das bei der Armut von Kindern. Eines von vier Kindern wächst unter Bedingungen mindestens einer von drei Risikolagen auf. Das heißt, die Eltern sind entweder arbeitslos, oder sie haben einen niedrigen Bildungsabschluss, oder sie sind schlicht und ergreifend arm. Vor allem die Zahl armer Familien mit Kindern ist gegenüber dem Vorjahr angewachsen. Fast 19 Prozent der Kinder unter 18 Jahren sind davon betroffen.

Meine Damen und Herren, das ist ein Ergebnis Ihrer Niedriglohnpolitik und nicht ein Ergebnis schlechter Bildungspolitik.

Darunter leiden diese Familien; denn deshalb sind auch die Bildungschancen ihrer Kinder deutlich schlechter. Es geht eben nicht nur um Defizite in der Bildungspolitik, sondern auch um Defizite in der Gesellschaftspolitik. Hier müssen wir genauso etwas ändern wie im Schulsystem.

Von den Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren haben 1,6 Millionen keinen Berufsabschluss, und die meisten von ihnen werden ihn auch nicht nachholen; auch das geht aus dem Bildungsgericht hervor. Die vorhandenen Förderprogramme des Bundes und der Bundesagentur für Arbeit bieten dafür offensichtlich keine Gewähr. Aber ein grundlegendes Umdenken findet nicht statt.

Noch schwieriger ist es für junge Menschen mit Migrationshintergrund, einen Bildungserfolg zu erzielen; auch das ist kein neuer Befund. Sie erreichen häufiger nur niedrige Bildungsabschlüsse, erhalten seltener einen Ausbildungsplatz und absolvieren noch seltener ein Studium. Wenn sie aber einen Studienplatz bekommen haben, dann erbringen sie genauso gute Leistungen und haben genauso große Chancen, das Studium zu schaffen, wie ihre Kommilitonen ohne Migrationshintergrund.

Nun frage ich Sie: Warum gelingt es uns eigentlich nicht, den Menschen, die nach Deutschland zugewandert sind, die gleichen Bildungschancen zu geben, die sie hätten, wenn sie hier geboren und aufgewachsen wären oder deutsche Eltern hätten? Es geht bei weitem nicht nur um sprachliche Defizite, sondern wir müssen endlich auch lernen, kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung anzuerkennen und nicht Vorurteile zu kultivieren.

Zu den Unmöglichkeiten gehört leider auch, dass die Regierung meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt einen großen Teil der im vergangenen Jahr eingestellten Sprachlehrkräfte nicht weiter beschäftigen wollte. Bis heute ist noch nicht klar, ob sie bleiben können.

Ich finde das unverantwortlich; denn das Erlernen der deutschen Sprache ist eine längerfristige Aufgabe. Außerdem droht ein gewaltiger Unterrichtsausfall, weil diese Lehrkräfte inzwischen auch schon im allgemeinen Unterricht aushelfen.

Im Bildungsbereich wird man letztlich in kaum einem Bundesland ohne Seiteneinsteiger bei den Lehrkräften auskommen. Die Versäumnisse in der Lehramtsausbildung der letzten Jahrzehnte wird man so schnell nicht beheben können. Deshalb muss man Möglichkeiten schaffen, dass diese Lehrkräfte ihren pädagogischen Abschluss nachholen, berufsbegleitend und im Rahmen besonderer Programme. Insgesamt muss deutlich mehr getan werden, um pädagogische Fachkräfte für alle Bildungsbereiche auszubilden. Das gilt nach wie vor insbesondere für Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache und sozialpädagogische Fachkräfte. Man muss sie besser bezahlen und fest anstellen.

Der Bildungsbericht stellt fest, dass gerade jüngere Fachkräfte im Kitabereich oft befristet angestellt sind. Das ist angesichts des wachsenden Betreuungsbedarfs unglaublich. Wieso eigentlich? Noch schlimmer ist die Arbeitssituation der Lehrkräfte in der Weiterbildung. Sie sind häufig auf Honorarbasis oder in Teilzeit angestellt. Sehr prekär ist auch ihre Bezahlung.

Wenn Sie einen Handwerker brauchen, werden Sie feststellen: Sein Arbeitslohn beträgt um die 60 Euro die Stunde. Lehrkräfte in der Weiterbildung werden aber mit 14 Euro Mindestlohn abgespeist. Das ist der Stundenlohn, der im Schnitt für Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit zu zahlen ist, und das auch nur, wenn die Weiterbildungsträger mehr als 50 Prozent ihrer Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung anbieten. Das Innenministerium hat nun die Honorare für Lehrkräfte in den Integrationskursen auf immerhin 35 Euro erhöht. Aber auch damit bleibt man hinter den Erfordernissen weit zurück; denn davon müssen sie auch alle Sozialabgaben und Arbeitgeberanteile zahlen.

Im Bildungsbericht wird festgestellt: Das monatliche Einkommen von Haupterwerbstätigen in der Weiterbildung liegt weit unter dem Durchschnittseinkommen anderer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wertschätzung von Bildungsarbeit sieht anders aus.

Es ist an der Zeit, den Flickenteppich in der Weiterbildung zu beenden, endlich einen Branchentarifvertrag für die Weiterbildung auszuarbeiten und ihn dann - das ist unsere Aufgabe - für allgemeinverbindlich zu erklären, damit alle in der Weiterbildung Tätigen ein gutes Einkommen haben.

Der Bildungsbericht stellt fest, dass die fünf zentralen Herausforderungen nach wie vor bestehen:

> Qualitätssicherung in der frühkindlichen Bildung, aber ein Qualitätsgesetz lehnen Sie ab; -

> Ganztagsschulen, aber das Kooperationsverbot erlaubt uns nicht die Finanzierung;

> Übergang von Schule in die berufliche Bildung, aber einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz wollen Sie nicht usw. usf.

Für all das brauchen wir die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen. Für ein zukunftsfestes Bildungssystem könnten wir uns überlegen, ob man nicht ein bundesweites Bildungsrahmengesetz schafft, in dem die sozialen und rechtlichen Bedingungen für die Arbeit in der Bildung sowie die Rechtsansprüche festgeschrieben sind, damit die Bildung in allen Bundesländern besser, vergleichbarer und gerechter wird.

Vielen Dank.