„Analphabetismus wirksam bekämpfen und eine gute Grundbildung für alle sichern“

Rede zu Protokoll TOP 19 - Der Deutsche Bundestag beschäftigt sich heute wiederholt mit dem Thema „Analphabetismus wirksam bekämpfen und eine gute Grundbildung für alle sichern“ und das ist auch richtig so.

Denn: Nach wie vor wissen wir zu wenig über die Ursachen von Analphabetismus, nach wie vor verlassen zu viele junge Menschen die Schule nicht nur ohne Schulabschluss, sondern auch mit unzureichenden Lese- und Schreibfähigkeiten. Nach wie vor ahnen wir nur, wann und warum Menschen im Laufe ihres Berufslebens das Lesen und Schreiben wieder verlernen. Nach wie vor kommen zu wenige in die Alphabetisierungskurse. Und Analphabetismus wird immer noch als Tabu behandelt.

Die in der vergangenen Wahlperiode beschlossene „Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung“ soll mit dem nun vorliegenden Antrag in eine Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung überführt werden. Das ist folgerichtig und erfüllt so – zwar verspätet, aber immerhin! – auch eine Forderung der LINKEN. Schon in unserem Antrag „Niemanden abschreiben – Analphabetismus wirksam entgegentreten, Grundbildung für alle sichern“ aus der vergangenen Wahlperiode haben wir die damalige Bundesregierung aufgefordert ein Zehn – Jahres – Programm aufzulegen. Dem entsprechen Sie jetzt – dass hätte schon früher sein können und müssen.

Offensichtlich sind Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, selber nicht wirklich von den Erfolgen der bisherigen Nationalen Strategie überzeugt. Sie schreiben in Ihrem Antrag ja selber von nur –ich zitiere- „ punktuell bereits bewährten Strategien“. Dabei mangelt es nicht an Förderprogrammen, Aufklärungskampagnen, Aufrufen und Aufforderungen von Bund und Ländern.

Auch die Arbeitsplatzorientierung ist nun Thema, nachdem wir in der Anhörung im Ausschuss damals etwas Ratlosigkeit und wenig Problembewusstsein auf der Arbeitgeberseite konstatieren mussten. Doch es muss auch darauf geachtet werden, dass die nun beabsichtigten Maßnahmen zum Beispiel der Bundesagentur nicht zu neuen Hinderungsgründen für eine erfolgreiche Arbeitsaufnahme werden, weil Sie sie zur Voraussetzung machen.

Neben einer sensiblen bundesweiten Informationskampagne „Lesen und Schreiben – mein Schlüssel zur Welt“, neben einigen Förderprogrammenzur arbeitsplatzorientierten Alphabetisierung und Grundbildung und die damit verbundenen Beratungs- und Schulungsangeboten, neben Online-Lernportalen und ersten entwickelten Curricula und Unterrichtsleitfäden, beschreiben die nackten Zahlen noch immer die Misere: 300 000 Menschen in Deutschland können nicht einmal ihren Namen schreiben, ca. 2,3 Millionen erwachsenen und erwerbsfähigen Menschen in Deutschland sind Analphabetinnen und Analphabeten im engeren Sinnen, das heißt, sie unterschreiten die „Satzebene“ und 7,5 Millionen Menschen können nicht richtig lesen und schreiben und gelten somit als funktionale Analphabetinnen und Analphabeten.

Es gibt noch einen  gravierenden Unterschied zu den Forderungen der  LINKEN: Wir wollten zumindest so viele Mittel aufwenden wie es Großbritannien gelingt. Sie dagegen schaffen zwar fast die Mindestforderung der SPD von damals – mindestens 20 Mio. sollten es sein, 19,5 Mio. stehen dieses Jahr im Haushalt – aber es ist sonnenklar, dass das nicht reicht. Auch hier ist Ihnen die „schwarze Null“ wieder näher als die Lese- und Schreibkompetenz der Menschen in unserem Land.

Wir brauchen eine andere, nämlich nachhaltige Finanzierung der Bildungsaufgaben auf allen Ebenen und in ganz Deutschland. Die Sicherung gleicher Bildungsteilhabemöglichkeiten für alle ist eine Aufgabe öffentlicher Daseinsvorsorge von gesamtgesellschaftlicher Dimension. Sie muss deshalb in gesamtstaatliche Verantwortung.

Ich glaube überhaupt, der größte Erfolg ihres Antrags ist, dass das Thema nicht wieder unter den Tisch gekehrt wird und es so am „köcheln“ bleibt. Ich frage mich aber, warum Sie den Antrag gerade jetzt stellen. Kennen Sie die Ergebnisse der nächsten Level-ONE-Studie schon und bauen vor? Arbeitet die Bundesregierung zu langsam oder zu wenig ergebnisorientiert und Sie müssen ihr auf die Sprünge helfen? Finden Sie in ihren eigenen Regierungskreisen zu wenig Gehör?

Ihre vier beschriebenen Handlungsfelder für die Alphabetisierungsdekade  – Strukturierung , Zielgruppendifferenzierte Förderung und Kurse, Umfeldsensibilisierung und niedrigschwellige Angebote sowie die Qualitätsentwicklung und Professionalisierung – machen deutlich, dass es noch ein weiter Weg ist, wenn es uns gelingen soll, dass die Zahl der Betroffenen aller „Alpha – Levels“ so stark wie möglich reduziert wird und so alle Menschen ein Mindestmaß an Lese- und Schreibfähigkeiten verbunden mit einer guten Grundbildung für alle erhalten können.

Gerade das letztgenannte Handlungsfeld, die Qualitätsentwicklung und Professionalisierung, ist das wichtigste hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Grundbildungs- und Alphabetisierungsangebote – und das in Ihrem Antrag „dünnste“. Ganze zehn magere Zeilen bieten Sie hierfür auf.  Halbherzig wird das Thema behandelt und vage werden Maßnahmen und Aktionen umrissen. Ist nicht manches auch Aktionismus und das Geld wäre anderswo besser angelegt?

Überhaupt fällt mir auf, dass wieder an den unbestreitbar vorhandenen Symptomen herumgedoktert wird und die Bekämpfung der Ursachen aus dem Blick gerät. Ein halbherziger Appell an die Länder ist da deutlich zu wenig. Sie betreiben eine nachsorgende Bildungspolitik, weil Sie sich für die Vorsorge nicht für zuständig halten.

Uns LINKEN fehlt weiterhin ein nachhaltiges Konzept „lebensbegleitenden  Lernens“, dass Fragen der Weiterbildung außerhalb der Institutionen der Weiterbildung nicht vernachlässigt. Gilt das schon für die berufliche Weiterbildung, so gilt das noch mehr für die allgemeine Weiterbildung. Hier aber wäre der Ort für eine wirksame Gegenstrategie zur fehlenden oder verloren gegangenen Grundbildung.

Eine nachhaltige Verbesserung der Situation in den kommenden Jahren und Jahrzehnten kann aber auch nicht erreicht werden, wenn man in der öffentlichen allgemeinen und beruflichen Schulbildung weiter macht wie bisher. Es muss gelingen, die Zahlen der Absolventinnen und Absolventen, die ohne Schulabschluss und ohne ausreichende Lese- und Schreibfähigkeiten die Schule verlassen, drastisch zu reduzieren.

Die Fraktion DIE LINKE fordert darum, sowohl das Augenmerk auf die Verbesserung der Schulbildung zu legen.  Mehr Ursachenforschung ist nötig, auch darüber wie und warum funktionaler Analphabetismus selbst nach erfolgreichem Schulabschluss im Lebenslauf entsteht. Es geht nicht nur um Nachsorge, sondern um bessere Vorsorge. Und es muss deutlich mehr Geld ins System. In Bund und Ländern. Die Programme müssen finanziell besser ausgestaltet werden. Die Weiterbildnerinnen und Weiterbildner müssen besser bezahlt werden. Die Bundesagentur für Arbeit darf keine Weiterbildungsleistungen vergeben, deren Träger nicht Tarif zahlen. Die Kürzungsabsichten der Arbeitsministerin gerade in diesem Bereich sind dafür aber kontraproduktiv. Wir brauchen immer noch eine neue Offenheit, mit Analphabetismus umzugehen, um ihn zu überwinden. Dafür müssen diagnostische Fähigkeiten in der Lehramtsaus- und Weiterbildung verbessert werden. Dabei bleibt zu bedenken, dass es für Analphabetismus sehr unterschiedliche Ursachen, sehr unterschiedliche Ausprägungen gibt und dass es notwendigerweise auch unterschiedliche Gegenstrategien geben muss. Die Forderung des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. nach qualifizierten Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogen mit Beratungs- und Förderfunktion in SEK I und berufsbildenden Schulen ist richtig und findet unsere Unterstützung.

Und natürlich wissen wir: Grundbildung umfasst mehr. Es geht um all das, was Menschen brauchen, um sich in dieser Gesellschaft Teilhabe zu sichern. Dazu gehören also nicht nur die einschlägigen Kulturtechniken, sondern auch ein Grundverständnis von demokratischen Zusammenhängen und Mitwirkungsmöglichkeiten.

Ich glaube, es ist Zeit für eine erneute Anhörung im Ausschuss. Insofern freue ich mich auf die Beratungen.