Schulsozialarbeit an allen Schulen - Investitionen in die Bildung rechnen sich - Rede zu Protokoll -

Rosemarie HeinSchulsozialarbeitBundestag

Vor einigen Jahren sagte mir ein Lehrer aus einer Sekundarschule in Sachsen-Anhalt, etwa eine halbe Unterrichtsstunde seines Unterrichts ginge regelmäßig erst einmal drauf für die Herstellung der Lernbereitschaft seiner Schülerinnen und Schüler. Er agiere die halbe Zeit seines Unterrichts als Schulsozialarbeiter. Nicht dass dieser Kollege seine Arbeit auf das Unterrichtgeben beschränkt sehen wollte, er ist ein auch sonst sehr sozial engagierter Kollege. Doch angesichts der konkreten Situation an seiner Schule und der Situation in den Elternhäusern seiner Schülerinnen und Schüler sah er eine erhebliche Gefährdung für die Bildungsarbeit an seiner Schule. Das war noch vor der ersten PISA-Studie, die dem deutschen Schulwesen nicht nur große Defizite in den Lernergebnissen, sondern auch eine übergroße Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Situation der Familien bescheinigte.

Seit etwa zwanzig Jahren scheint dagegen ein Kraut gewachsen zu sein und immer mehr Schulen und Eltern wissen es zu schätzen. Es heißt Schulsozialarbeit. In den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Zuge der Bildungsreformen in der Bundesrepublik entwickelt, hat sie sich zu einem verlässlichen Anker im Fluss der dramatisch veränderten gesellschaftlichen Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen entwickelt. Damit werden zwar bei weitem nicht alle Fehlstellen des deutschen Bildungssystems behoben, aber Schulsozialarbeit hat sich als wirkungsvolles Instrument erwiesen, vielen Schwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen frühzeitig zu begegnen, die sie beim Lernen behindern.
Die Kinder- und Jugendberichte der letzten zehn Jahre belegen, dass sich die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche in diesem Land aufwachsen, erheblich verändert haben. Sie haben seltener Geschwister, ihre Eltern sind häufiger arbeitslos oder arm trotz Arbeit, oder sie haben zu wenig Zeit für sie wegen hoher beruflicher Belastungen. Schulsozialarbeit kann da wirkungsvoll sein. Der jüngste, der 14. Kinder- und Jugendbericht widmet der Schulsozialarbeit sogar einen ganzen umfangreichen Abschnitt. Und nun zitiere ich aus dem 14. Kinder- und Jugendbericht, der heute vorgestellt wurde: „Schulsozialarbeit und Formen schulbezogener Jugendso¬zialarbeit sind Angebote, die mittlerweile von den Leh-rerkollegien und Schulträgern anerkannt, geschätzt und als zunehmend notwendig für eine gelingende Schule ein¬geschätzt werden.“ (DS 17/12200, S. 329)
Im Bericht ist zu lesen, dass sich seit 1998 die Zahl der in der Schulsozialarbeit tätigen Personen vervierfacht hat. Mehr als 3.000 Fachkräfte sind heute in der Schulsozialarbeit tätig.
Aber bundesweit gibt es weit über 43.000 Schulen, Das heißt, nicht einmal in jeder zehnten Schule steht heute Schulsozialarbeit zur Verfügung.
Wenn aber Schulsozialarbeit zunehmend notwendig ist für gelingende Schule, was machen dann die mehr als 90 Prozent der Schulen, denen Schulsozialarbeit als Leistung nicht zur Verfügung steht? Gelingt ihre Schule nicht? Oder wer trägt die Last? Und auf wessen Kosten?
Die bislang erreichten Fortschritte können offensichtlich nicht im Ansatz zufrieden stellen.
Dabei wurde schon im zwölften Kinder- und Jugendbericht, der im Jahre 2002 erschienen ist, festgestellt, dass Schule und Bildung heute komplexer gefasst werden müssen, dass Schule weit mehr ist als ein Ort des Unterrichtens und der Wissensvermittlung, dass es vielmehr ebenfalls auf die Ausprägung sozialer Kompetenzen ankomme und, vor allem, dass sich die Lebenswelt von Familien und damit von Kindern und Jugendlichen so verändert hat, dass Schule im herkömmlichen Verständnis den Aufgaben für gute Bildung nicht mehr gewachsen sein kann. Und genau das hat mir der Kollege aus Sachsen-Anhalt recht plastisch vor Augen geführt.
Schule von heute muss ein Lernort sein, in dem Lehrkräfte, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter, aber auch Schulpsychologen und andere Fachkräfte zusammenwirken, damit aus der Schule im besten Sinne ein Lernort wird, der die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen aufnimmt und gestaltet, und der es ermöglicht, auch für jede und jeden gute Bildung zu sichern.
Seit 2002 hat sich Schulsozialarbeit zwar weitgehend profiliert und etabliert, aber für viele Schulen bleibt es ein Wunsch.
In vielen Fällen setzt Schulsozialarbeit außerdem erst dann ein, wenn Defizite erkannt werden oder das berühmte Kind schon in den Brunnen gefallen ist. So sehe ich auch das Bundesprogramm „Zweite Chance“, denn die erste Chance wurde offensichtlich vertan. Vielleicht hätte sie aber nicht vertan werden müssen, wenn gute Schulsozialarbeit die Bildungsarbeit begleitet hätte. Und es gibt heute keine Schulform und keine Schule mehr, die von sich behaupten könnte, ihr würde Schulsozialarbeit nicht helfen. Es geht auch nicht nur um sogenannte „Brennpunktschulen“, es geht nicht nur um schwierige soziale Ausgangslagen. Auch der Lerndruck an Gymnasien und die Erwartungshaltungen in mancher Familie könnten der Begleitung durch Schulsozialarbeit bedürfen, es wird nur noch nicht überall so gesehen.
Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter können Partnerinnen und Partner für Lehrende wie für Lernende sein und auch Eltern beratend zur Seite stehen. Es kommt darum darauf an, Schulsozialarbeit endgültig aus der Ecke der nachsorgenden Sozialarbeit und aus der Fürsorgerolle heraus zu holen, und sie zu einem festen Bestandteil schulischer Arbeit zu machen. Lehrende könnten sich dann stärker auf ihre Bildungsarbeit konzentrieren und sie könnten sich in Problemsituationen beraten.
Fachkräfte der Schulsozialarbeit haben in der Bildungseinrichtung Schule ihre eigenständige Funktion. Sie können oft leichter das Gespräch mit Lernenden suchen, schon weil sie eben keine Zensuren vergeben und nicht übers Sitzenbleiben entscheiden. Sie können eine Scharnierfunktion zwischen Lehrenden und Lernenden, zwischen Kindern und Eltern, zwischen Eltern und Lehrkräften und zum gesellschaftlichen Umfeld wahrnehmen und praktische Hilfen anbieten. Durch ihre Tätigkeit an der Schule kann sich das Schulklima und damit das Arbeitsklima in der Bildungsarbeit erheblich verbessern. Zweite Chancen würden dann in der Regel überflüssig und Bildungserfolge würden sich für mehr Kinder und Jugendliche einstellen.
Doch Schulsozialarbeit ist nach wie vor rechtlich nicht genügend abgesichert. So wurden durch das Bildungs- und Teilhabepaket zwar zahlreiche Stellen neu geschaffen, aber sie sind wie fast alle anderen Stellen für Schulsozialarbeit an befristete Projektmittel gebunden und nicht auf Dauer angelegt. Schulsozialarbeit ist in nur wenigen Schulgesetzen der Länder verankert und die Bestimmung von schulbezogener Jugendsozialarbeit im Kinder- und Jugendhilferecht des Bundes ist vorrangig auf die Behebung vorhandener Defizite ausgerichtet.
In der Antwort auf meine schriftliche Frage zur Schulsozialarbeit wird sogar die Bedeutung des einschlägigen ESF-Programmes „Schulerfolg sichern“ durch das zuständige Bundesministerium verneint. Stellen für Schulsozialarbeit seien aus diesem Programm nicht zu finanzieren. Bloß gut, dass sich die Länder nicht daran halten.
In der Stellungnahme der Bundesregierung zum 14. Kinder- und Jugendbericht, der ja ein ganzes Kapitel der Schulsozialarbeit widmet, kommt das Wort „Schulsozialarbeit“ nicht einmal vor. Ich kann hierin nur eine grobe Unterschätzung dieses Arbeitsbereiches der Kinder- und Jugendhilfe erkennen.
Das kann für die Zukunft nicht zufrieden stellen.
Im Dezember des vergangenen Jahres trafen sich in Hannover Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter zu einem Kongress. Ihre Forderungen sind klar: Schulsozialarbeit gehört an jede Schule. „Ziel muss eine strukturell abgesicherte Finanzierung von Schulsozialarbeit sein, die auf Jugendhilfe - und Schulentwicklungsplänen beruht,“ hieß es dort.
Verantwortung dafür trügen die Jugend- und Kultusminister der Länder.
Wir haben die vielfältigen Anregungen aufgegriffen und schlagen vor, die Schulsozialarbeit, oder auch schulbezogene Jugendsozialarbeit, in einem eigenen Paragrafen im Kinder- und Jugendhilferecht zu verankern. Dort sollen die Aufgaben beschrieben und Zuständigkeiten bestimmt werden. Der Bund könnte dann nach § 83, Absatz 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes die Einrichtung von Schulsozialarbeit an jeder Schule als gesamtstaatliche Aufgabe fördern. Eine Aufhebung des Kooperationsverbotes in der Bildung würde diese Zusammenarbeit erleichtern, aber auch unter den jetzigen grundgesetzlichen Rahmenbedingungen ist eine Verstetigung und ein Ausbau von Schulsozialarbeit möglich.
Ein letztes Wort zum Personal:
Schulsozialarbeit wird zum übergroßen Teil von Fachkräften mit einem Hochschulabschluss geleistet. Das entspricht auch dem hohen Anspruch an diese Tätigkeit. Schulsozialarbeit ist nicht pädagogische Hilfstätigkeit, sondern eine hochprofessionelle eigenständige pädagogische Arbeit.
Die Bezahlung dieser Fachkräfte erfolgt aber nicht selten auf einem sehr niedrigen Niveau, weit unter der – ohnehin nicht üppigen – Eingruppierung im Tarif des öffentlichen Dienstes. Hinzu kommt, dass die Arbeitsverträge, weil an Projektmittel gebunden, sehr oft nur befristet sind. Das ist weder zufriedenstellend noch angemessen. Dem Stellenwert der Schulsozialarbeit muss im Zuge ihrer rechtlichen Neubestimmung und Ausgestaltung auch durch ihre tarifliche Eingruppierung gebührend gewürdigt werden. Auszahlen wird sich das allemal. Für die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien, für die Lehrenden, für die Profile und die Leistungsfähigkeit von Schulen, für den Bildungserfolg und den sozialen Ausgleich und damit am Ende auch in der gesellschaftlichen Gesamtrechnung. Auch hier gilt: Investitionen in die Bildung rechnen sich.

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