Aufhebung des Kooperationsverbots für den gesamten Bildungsbereich

TOP 21 Rede zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne: Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Verantwortung für die großen Herausforderungen in Bildung und Wissenschaft übernehmen

 

TOP 21 Rede zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne: Kooperation ermöglichen – Gemeinsam Verantwortung für die großen Herausforderungen in Bildung und Wissenschaft übernehmen -Zu Protokoll gegebene Rede-

"Eigentlich weiß man gar nicht mehr, was man noch sagen soll. Alle Oppositionsfraktionen haben seit 2010 wenigstens je zwei Anträge zur Zusammenarbeit von Bund und Ländern auf dem Gebiet der Bildung in den Bundestag eingebracht, drei Bundesländer haben sich dezidiert für mehr Zusammenarbeit zwischen Bund und
Ländern in der Bildung ausgesprochen – es werden weitere folgen –, und nun hat sich der Koalitionsausschuss tatsächlich bewegt: Die Regierung soll noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf für eine Grundgesetzänderung vorlegen, nach der der Bund mit den Ländern in Bildungsfragen wieder gemeinsame Sache machen kann.

Doch halt: „In der Bildung“ ist nicht ganz richtig, lediglich um die Zusammenarbeit bei Vorhaben an den Hochschulen soll es gehen. Doch auch hier steckt der Fehler im Detail: Frau Schavan geht es hierbei leider nicht um die flächendeckende institutionelle Förderung der Hochschulen, sondern wieder einmal nur um ausgewählte exzellente Standorte oder Institute. Nicht dass eine Förderung der Hochschulen falsch wäre und nicht dass sie über diesen Weg besser finanziert werden könnten: Aber der gesamte Bereich der schulischen Bildung bleibt wieder außen vor. Dabei fordern inzwischen 75 Prozent der Bevölkerung, dass die Zuständigkeit für Bildung insgesamt künftig beim Bund liegen soll. Wer darum den Bildungsföderalismus erhalten will, der muss sich bewegen.

Die Koalition kann sich offensichtlich nicht auf eine Grundgesetzänderung in Sachen Schulbildung einigen. Dabei ist seit langem klar, dass Länder und Kommunen die anstehenden Probleme gar nicht mehr ohne Bundesbeteiligung lösen können. Nehmen wir nur den Schulbau. Jede, aber auch jede Kommune greift auf alle möglichen Finanzierungsprogramme aus dem Bund und der EU zu, die es ermöglichen, Geld für die nötigen Schulsanierungen zu bekommen. Ohne die Verfassungsschranken könnte der Bund direkt in den Schulbau investieren. Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung für Kinder aus armen Familien ist zwar das falsche Instrument, um für bessere Bildung und Teilhabe für Kinder zu sorgen, aber selbstverständlich nehmen die Länder das Geld gern in Anspruch.

Immer lauter wird die Kritik am Auseinanderdriften der Qualität schulischer Bildung zwischen den Ländern trotz der vollmundig vereinbarten gemeinsamen Bildungsstandards in den Kernfächern. Sie führen aber offensichtlich noch nicht dazu, dass die Bildungsabschlüsse ohne Wenn und Aber gegenseitig anerkannt werden. Lehrerinnen und Lehrer werden längst in den Ländern unterschiedlich bezahlt, obwohl sie die gleiche Arbeit leisten. Die Studienabschlüsse für Lehrerinnen und Lehrer werden zwischen den Bundesländern nicht ohne Weiteres anerkannt.

Neben dem Geld und bürokratischen Hürden gibt es eben auch derart unterschiedliche Bildungsstrukturen, dass der Umzug von Familien in ein anderes Bundesland zum Wagnis für den Schulerfolg der Kinder wird. Die Liste der Unzulänglichkeiten beim derzeit praktizierten Wettbewerbsföderalismus ließe sich noch weiter fortsetzen. „Kleinstaaterei“ nennt der Volksmund das. Nicht, dass es innerhalb des föderalen Systems keine Lösung für diese Probleme geben könnte: Aber die derzeit Agierenden sind offensichtlich unfähig, und unwillig, welche zu finden. Sie achten eitel darauf, dass ihnen keine Entscheidungskompetenz abhanden kommt, und riskieren dabei das weitere Auseinanderdriften der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West. Mit einem „Bund“ hat das schon nichts mehr zu tun, eher mit einem „bunten Strauß von Blüten“, die sich in der Vase nicht vertragen. In Sachsen-Anhalt gab es – Zu- und Fortzüge zusammengerechnet – im Jahre 2010 etwa 80 000 Menschen, die das Bundesland gewechselt haben. Aus der Bundesstatistik kann man entnehmen, dass im Jahr 2008 bundesweit mehr als 1 Million Menschen über die Grenze des eigenen Bundeslandes umgezogen sind. Wenn nur jeder zehnte Mensch davon ein Kind im schulpflichtigen Alter war, dann sind mehr als 100 000 Kinder in einem Jahr von einem Schulwechsel betroffen gewesen. Wenn die Wanderungsbewegung so bleibt, wechseln im Laufe Million Schülerinnen und Schüler in ein anderes Bundesland. Wer das ignoriert, handelt verantwortungslos. Es ist schon ein Kreuz mit den Bildungspolitikerinnen und -politikern aller Parteien und aller Bundesländer, dass sie sich nicht auf Lösungen verständigen können, die die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen in der Bildung sicherstellen, ohne die Bildungshoheit der Länder zu gefährden.

Warum kann man nicht wie vor 48 Jahren beschließen, dass die Bildungsabschlüsse aus anderen Bundesländern anerkannt werden? Punkt. Warum kann man nicht sichern, dass bei einem Umzug nicht noch einmal teure Schulbücher gekauft werden müssen? – Eine grundgesetzlich garantierte Lernmittelfreiheit könnte da helfen. – Warum kann man in Fragen der Schülerbeförderung nicht für alle Kinder gleichwertige Bedingungen schaffen, wie es für einen stark benachteiligten Kreis von Kindern durch das Bildungs- und Teilhabepaket jetzt geschieht? Warum kann man nicht soziale Mindeststandards – etwa Schülerbeförderung, Lernmittel und Schulessen – setzen, die Geleichwertigkeit garantieren, von denen die Länder wie beim Kinder- und Jugendhilferecht nur nach oben abweichen können?

Wenn man mittels Bildungsföderalismus eine Vielfalt in der Bildungslandschaft zulässt: Warum kann man dann nicht die eingrenzenden Regelungen und bürokratischen Anerkennungsvoraussetzungen einfach fallen lassen und Vielfalt auch anerkennen? Gäbe es eine Gemeinschaftsschule in allen Bundesländern, gäbe es sicher nicht weniger Vielfalt. Aber dann wäre ein Schulwechsel ein viel geringeres Problem. Denn wären diese Schulen inklusive Schulen, wäre auch genügend Möglichkeit zur individuellen Förderung vorhanden, um eventuelle Unterschiede in den Bildungsinhalten auszugleichen. Aber das braucht ja noch eine ganze Weile.

So wie die Sache jetzt läuft, müssen junge Menschen und ihre Familien ausbaden, was die Kultusbürokratien und die Länder nicht regeln wollen. Darum ist der Stadt Hamburg sowie den Ländern Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein zu danken, dass sie die Debatte im Bundesrat angestoßen haben. Frau Kraft aus Nordrhein- Westfalen hat auch ihre Bereitschaft signalisiert. Wir hoffen, es kommen noch mehr Landesregierungen
und Länderparlamente zu dieser Einsicht, und wir hoffen, es kommt dann auch zu einer Einigung über Ländergrenzen hinweg, die dem Bildungschaos endlich ein Ende bereiten."